
Lili - Heft 105
Thema: Memoria in der Literatur
Herausgeber dieses Heftes:Wolfgang Haubrichs
Inhalt
Joachim Knape
Memoria in der älteren rhetoriktheoretischen Tradition
Margarete Hubrath
Monastische Memoria als Denkform in der Viten- und Offenbarungs-literatur
aus süddeutschen Frauenklöstern des Spätmittelalters
Barbara Haupt
Literarische Memoria im Hochmittelalter. Chrestien de Troyes und der
Discours de la Méthode
Klaus Ridder
Ästhetisierte Erinnerung - erzählte Kunstwerke. Tristans
Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde
Ulrich Ernst
Die Bibliothek im Kopf: Gedächtniskünstler in der europäischen
und amerikanischen Literatur
Labor
Peter Seibert/Sandra Nuy
»In bunten Bildern wenig Klarheit«? Faust im Fernsehen
Mirjam Springer
Kein Blick ins Offene. Immermanns Papierfenster eines Eremiten und
die Restauration
Claus Nordbruch
Siegfried Lenz: Ein Kriegsende. Ist Pflichterfüllung mit Menschlichkeit
zu verbinden?
Franklin C. West
World Historical Chatter: Leo Löwenthal’s Critique of German Popular
Biography
Wolfgang Haubrichs
Einleitung
Gedächtnis haben kalte Seelen; |
Die fühlenden - Erinnerung. |
Johann Christoph Friedrich Haug, Sinngedichte (1791) |
Alles, was ich erfuhr, ich würzt’ es mit süßer Erinnerung, |
Würzt’ es mit Hoffnung; sie sind lieblichste Würzen der Welt. |
Johann Wolfgang von Goethe,
Venezianische Epigramme (1790) |
Die Erinnerung ist das einzige Paradies,
woraus wir nicht vertrieben werden können. |
Sogar die ersten Eltern waren nicht daraus zu bringen. |
Jean Paul, Die unsichtbare Loge (1793) |
Aus drei verschiedenen Perspektiven blickend hat die moderne Forschung
memoria als wissenschaftliches Thema wiedergefunden. Einmal, wofür
das bedeutende Werk von Mary Carruthers The Book of Memory. A Study
of Memory in Medieval Culture (1990) stehen kann, aus der durch die
Tradition der antiken Rhetorik vermittelten Perspektive der mnemonischen
Technik, der als Bildungstechnik durch Mittelalter und frühe Neuzeit
permanent geübten Schulung des Gedächtnisses, welche zunächst
die orale, schließlich aber auch die literarische Kultur prägte.
Eine andere Forschungsperspektive, wofür die Arbeiten von Historikern
wie Joachim Wollasch, Karl Schmid und Otto Gerhard Oexle mit Memoria.
Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter
(1984) oder Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet (1985), wie
auch Jacques LeGoff mit Geschichte und Gedächtnis (1992) stehen
mögen, hat in langfristiger und minutiöser Quellenarbeit die
Bedeutung der memoria als konstitutives Element mittelalterlicher
Gemeinschaften und gesellschaftlicher Gruppen, ja als heiliges und schließlich
auch profanes Denken prägende Form, auch als bis heute weiterwirkendes
mentales Muster, das zur Lebensform gerinnen kann, eindrucksvoll herausgearbeitet.
Andere, wofür stellvertretend die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann
und zuletzt der von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann herausgegebene
Sammelband Memoria. Vergessen und Erinnern (1993) stehen sollen,
haben zeigen können, in welcher Weise der Mensch mit der memoria
von Welt und eigener Existenz Besitz ergreift, Bewußtsein erzeugt
und sich schließlich mit der Schrift ein Instrument über sich
selbst hinausreichender Dauer und neuer Weltauffassung erschafft, die es
ihm erlaubt, in der historia die gesta und dicta memorabilia
der Vorangegangenen unverlierbar für eine aus der Repetition und Aneignung
erwachsenden Kreativität zu machen.
Seien diese Perspektiven in ihrer oft vielfältigen und subtilen
Individuation noch so verschieden und eigenartig gestaltet, ihr tiefer
Zusammenhang im Gestus des Ergreifens der Welt in Erinnern und Gedenken
ist offenbar. Um so mehr verwundert es, daß dem Eingang dieses mentalen
Musters, des memorialen Denkens und Bewußtseins in literarische Werke
relativ wenig Beachtung geschenkt wurde. Hier, freilich ohne irgendeinen
Anspruch auf Systematik oder Vollständigkeit, setzen - jeweils einer
oder mehreren der oben benannten Perspektiven der Memoria-Forschung verhaftet
- die Beiträge dieses Heftes an. Joachim Knape (Tübingen) zeigt
in seinem Essay über Memoria in der älteren rhetoriktheoretischen
Tradition, wie der Wert der mnemonischen Techniken, in der Antike noch
selbstverständlicher Bestandteil und eigenständige pars
der rhetorischen Kunst, in Mittelalter und früher Neuzeit durchaus
angezweifelt werden kann und neuem wissenschaftlichen Nachdenken über
die Psyche des Menschen und die Stellung und Natur des Gedächtnisses
in ihr Raum gibt, wozu jetzt auch die Studie von Anselm Haverkamp über
»Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik« (in: Gedächtniskunst.
Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a.M. 1991)
zu vergleichen ist.
Wie die gemeinschaftsstiftende Form der memoria Literatur geworden
ist, untersucht Margarete Hubrath (Chemnitz) am Beispiel von schreibenden
Dominikanerinnen in ihrem Beitrag Monastische Memoria als Denkform in
der Viten- und Offenbarungsliteratur aus süddeutschen Frauenklöstern
des Spätmittelalters. Sie kann darüber hinaus nachweisen,
wie hier Augustins eigentümliche Memoria-Theorie auf praktizierte
oder doch versuchte Lebensform einwirkt, indem die Nonnen die zunehmende
Auslöschung der in der memoria exterior des Menschen vorhandenen
welthaltigen Gedächtniseindrücke zugunsten der Auffüllung
des Gedächtnisses mit heiligen Gedanken, Gottgedenken, zugunsten einer
Entfaltung der memoria interior erstreben, die sie der asketischen
Vervollkommnung näherbringen soll.
Explizit an Jan Assmanns Entwurf Das kulturelle Gedächtnis
(1992) knüpft Barbara Haupt (Düsseldorf) mit ihrer subtilen Analyse
Literarische Memoria im Hochmittelalter, Chrestien de Troyes und der
Discours de la Méthode an. Sie lehrt Chrestiens einzigartige
Schöpfung, den Artusroman in seiner ausbalancierten Struktur von idealen
Projektionen, krisenfähigem Helden und symbolisch sich selbst spiegelnden
Erzählstationen, als »eine versinnlichte Erinnerungsfigur begreifen,
die sich dem Gedächtnis einer Gemeinschaft einprägen kann«,
also gerade durch seine ästhetische Form gesellschaftliches Wissen
transportiert. Im Artusroman wird das kulturelle Gedächtnis der höfischen
Gesellschaft Form: Klaus Ridder (Paderborn) in seinem Beitrag Ästhetisierte
Erinnerung - erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab,
Lancelots Wandgemälde untersucht dagegen, wie und in welchen Formen
und mit welcher Funktion memoria in den Romanen selbst verarbeitet
wird. Ridder zeigt dies an der Erinnerungsarbeit, in der sich die Helden
einiger höfischer Romane ihre verlorene Geliebte vergegenwärtigen,
sich ihrer fern gewordenen Liebe versichern: Gottfrieds Tristan, der an
fremdem Hof seine der geliebten Isolde gewidmeten Minnelieder vorträgt;
Flore, der in Konrad Flecks Novelle dem Reiz der Bildwerke am falschen
Memorialgrab seiner geliebten Blanscheflur erliegt; Lancelot, der im Verließ
der Fee Morgane - angeregt von einer Wandmalerei, die das Schicksal des
aus Troja vertriebenen Aeneas zum Gegenstand hat - seine eigene Geschichte
zeichnet, in der er seine verbotene Liebe zur Herrin des Artushofes sowohl
erinnert als auch enthüllt. Es ist kein Zufall, daß in beiden
Studien Grabmemorien eine literarische Rolle zu spielen beginnen - auch
hier gehen die Aeneasromane, der französische und Heinrichs von Veldeke
deutsche Adaptation, steigernd voran: es handelt sich um Reflexe der gerade
im zwölften Jahrhundert als visuelle Zeichen des Gedenkens der eigenen
Herkunft aufblühenden prächtigen Grabdenkmäler des europäischen
Hochadels (dazu vgl. nun auch ein Versuch zu Gahmurets Grabmal in Wolframs
Parzivalroman in Erzählungen in Erzählungen, Festschrift
für D. Kartschoke, 1997).
In Salman Rushdies gleichnamigem Roman sind Mitternachtskinder
solche Kinder, die in der ersten Stunde des 15. Augusts 1947, jenes Tages,
an dem der Staat Indien unabhängig wurde, geboren wurden. Alle sind
sie mit irgendwelchen übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet:
das Erzähler-Ich empfängt die Eingebungen des Erzengels Gabriel,
andere vermögen durch die Zeit zu reisen, durch Spiegel zu gehen und
an beliebigem Ort aus spiegelnden Flächen wiederaufzutauchen. »In
Schillong« aber »gab es den Sohn eines reichen Teeplantagenbesitzers,
der damit gesegnet (oder vielleicht dazu verdammt) war, nichts vergessen
zu können, was er je gehört oder gesehen hatte«. Rushdie
hat damit das alte literarische Motiv des über die memoria perfecta
verfügenden »göttlichen Menschen« aufgenommen, das - wie Ulrich
Ernst (Wuppertal) in seinem material- und facettenreichen Beitrag Die
Bibliothek im Kopf: Gedächtniskünstler in der europäischen
und amerikanischen Literatur nachweist - bis in die Antike hinabreicht.
In christlicher Auffassung kommt dieses vollkommene Gedächtnis ausschließlich
Gott zu und der zwölfjährige, allkundige Jesus im Tempel erweist
seine Göttlichkeit gerade durch diese Eigenschaft. Ernst verfolgt
die Rezeption und Saekularisierung dieses Motivs durch Leben und Literatur,
findet Gedächtniskünstler, die Schriftgelehrte in Erstaunen setzen,
bei Autoren von Grimmelshausen über Goethe, E. T. A. Hoffmann, Stendhal,
Canetti, Borges bis hin zu Anthony Burgess und Patrick Süskind. Einleuchtend
ist seine Folgerung, daß der nur zu Zitation und Repetition des Erbes
fähige, »über umfassende Wissensbestände verfügende
Gedächtniskünstler in der modernen Literatur zur Chiffre des
postmodernen Menschen arriviert«. Die memoria schließt
sich im elektronischen Zeitalter an die Festplatte an, die Diskette wird
zum allzeit einsatzbereiten Wandergedächtnis.
Joachim Knape
Memoria in der älteren rhetoriktheoretischen Tradition
Die Geschichte der memoria als Bestandteil älterer Rhetoriken ist
eine Geschichte der Auseinandersetzung mit dem antiken Theorieerbe. Die
antiken Rhetoriker widmeten sich der Mnemonik mit größerer Selbstverständlichkeit
als die mittelalterlichen. Die Praxis forensischer Rede und öffentlicher
oder schulischer Deklamation war in der Antike so gegenwärtig, daß
das Memorieren als oratorischer Arbeitsgang natürlich in die Rhetoriktheorie
einbezogen werden mußte. Die klassischen Systemrhetoriken behandelten
sie als vierte der fünf Aufgaben des Redners (officia oratoris), die
das rhetoriktheoretische Makrogefüge bildeten. Inhaltlich setzte man
sich in unterschiedlichem Umfang mit Ursachen und Bedingungen des Erinnerungsvermögens
sowie Techniken der Memorierkunst auseinander. An der Praktikabilität
der komplizierten Inhaltsörterlehre, wie sie der Autor ad Herennium
formuliert, kamen schon in der Antike Zweifel auf. Dennoch wurde sie teils
rudimentär, teils eigentümlich abgewandelt, bis in die frühe
Neuzeit hinein tradiert. Kritische Rhetoriker konzentrierten sich demgegenüber
mit Quintilian mehr auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Texteinprägens.
Immer aber stand die Mnemonik im Schatten der intensiver erörterten
text- und kommunikationstheoretischen Fragestellungen der Rhetorik. Die
wenig überzeugenden Mnemotechniken, über deren antike Ansätze
man im Rahmen der Rhetorik nicht hinauskam, und die Zuordnung des Erinnerungsvermögens
zum Bereich atechnischer Naturbegabungen veranlaßten schließlich
viele Rhetoriker, ganz auf die Behandlung der memoria zu verzichten. Unterstützt
wurde dies durch die neue Rolle der Rhetorik in der nachantiken Kultur.
Das alte Deklamations- und Redewesen verschwand, und die Rhetorik wurde
für lange Zeit zur scholastischen Textwissenschaft. Der Humanismus
brachte in dieser Hinsicht zwar eine teilweise Rückbesinnung, doch
etablierten sich gerade hier auch mächtige Gegner der Mnemonik, die
auf lange Sicht eine endgültige Abkoppelung dieser alten pars rhetoricae
vom rhetorischen System bewirkten.
Margarete Hubrath
Monastische Memoria als Denkform in der Viten- und Offenbarungs-literatur aus süddeutschen Frauenklöstern des Spätmittelalters
Monastic Memorial Thinking in vitae and revelationes of Late-medieval Women’s Monasteries in Southern GermanyThe article deals with the concept of » memoria « in the Sister-Books
written in Dominican convents of the fourteenth century. On the one hand
the texts establish a specific kind of commemoration of the dead which
places both the sisters and their communities within a tradition of sanctity.
On the other hand the Sister-Books show the influence of St. Augustine’s
theory of memory. They exemplify how to annihilate one’s »exterior« memory
by different ways of remembering God in order to become a mirror of divinity.
Barbara Haupt
Literarische Memoria im Hochmittelalter. Chrestien de Troyes und der Discours de la Méthode
Literary »Memoria« in the High Middle Ages, Chrestien de Troyes and the Discours de la MéthodeThe author analyses different types of literary »Memoria« in vernacular
texts of the High Middle Ages. She refers to objectified types of »Memoria«-tradition
in the sense of »cultural remembrances« (J. Assmann). In this
regard, the prologue to the Erec of Chrestien de Troyes is of special
interest. In a detailed comparison with Descartes’ Discours de la Méthode,
the author argues that Chrestien clearly laid the foundations for cultural
remembrances in this prologue. Considering the current discussion of orality
and literacy, it must be stressed that in Chrestien’s point of view cultural
remembrances are not primarily related to literacy as such, but to the
aesthetic form.
Klaus Ridder
Ästhetisierte Erinnerung - erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde
Aestheticization of memory - the narration of art. Tristan’s songs, Blanscheflur’s fictitious tomb, Lancelot’s paintingThe article deals with forms of memorial thinking in the courtly romance,
focusing on three scenes whose protagonists visualize their absent lover
in producing art: Tristan performing his own minne songs at Karke’s court
as shown in Gottfried’s Tristan, Flore encountering the figures
on Blancheflur’s fictitious tomb in Konrad Fleck’s novel and Lancelot’s
painting in Morgane’s dungeon as described in the prose version of Lancelot.
Each of these authors especially accentuates the subjective and biographical
dimension of the production and reception of art as a means of aestheticizing
memory.
Ulrich Ernst
Die Bibliothek im Kopf: Gedächtniskünstler in der europäischen und amerikanischen Literatur