
Lili - Heft 116
Thema: Katechese, Sprache, Schrift
Herausgeber dieses Heftes:Brigitte Schlieben-Lange
Inhalt
Brigitte Schlieben-Lange
Vorwort - Preface
Einleitung - Introduction
Konrad Ehlich
Der Katechismus - eine Textart an der Schnittstelle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Catechism - a Text Species at the Interface Between the Oral and the Written
Brigitte Schlieben-Lange
Missionarslinguistik in Lateinamerika. Zu neueren Veröffentlichungen und einigen offenen Fragen
Missionary Linguistics in Latin America
Wulf Oesterreicher und Roland Schmidt-Riese
Amerikanische Sprachenvielfalt und
europäische Grammatiktradition.
Missionarslinguistik im Epochenumbruch der Frühen Neuzeit
Christiane Dümmler
Die Übersetzungsproblematik in Missionarssprachwerken aus der kolumbianischen Kolonialzeit
The Problem of Translations in Linguistic Texts of Missionaries in Colonial Colombia
Eni Pucinelli Orlandi
Sprache, Glaube, Macht: Ethik und Sprachenpolitik
Language, Faith, Power: Ethics an Language Policy
Labor
Hyunseon Lee
Im Schatten stalinistischer Prozesse: Zur Dialektik des Geständnisses in Stefan Heyms Roman Collin
Manfred Schumacher
Christopher Marlowes The Jews of Malta und der Immoralismus der englischen Renaissance
Yvonne Spielmann
Selbstreflexion im Videobild
Ulrike Vedder
Todesarten und ihre Darstellbarkeit. Ricarda Huch und der Dreißigjährige Krieg
Jørn Erslev Andersen
Die Verwitterung des Grundes
Brigitte Schlieben-Lange
Einleitung
Das Verhältnis von Religion und Sprache hat viele Facetten, von denen
eine in diesem Heft in den Vordergrund gestellt werden soll, die Frage
nämlich, wie und in welchem Maße die (christliche) religiöse
Unterweisung unsere Vorstellungen von einer modernen Sprache geprägt
hat. Diese Fokussierung mag überraschen, sind wir doch seit der
Aufklärung gewöhnt, die Modernität als strikt von Religion und ihren
institutionellen Formen getrennt zu sehen. Der Gedanke, dass
Reformatoren und Missionare (auch dieser Nexus ist nicht
selbstverständlich) in sprachlicher Hinsicht gerade die Agenten der
Modernisierung gewesen sind, der Modernisierung mit alle ihren
Problemen, ist gewöhnungsbedürftig.
Im Gegensatz zu anderen Weltreligionen ist das Christentum sehr
schnell den Weg der Mehrsprachigkeit und der Übersetzung gegangen. Die
großen biblischen Spracherzählungen von der adamitischen Sprache des
Paradieses, von der sprachlichen Einheit, die durch den Turmbau von
Babel zerstört wurde, und von Pfingsten, das Verständigung über die
Einzelsprachen hinweg wieder möglich machte, bleiben zwar bis weit in
die Neuzeit hinein virulent, in der christlichen Praxis setzte sich
jedoch die paulinische Position durch, nicht auf Inspiration und
universelle Kommunion zu vertrauen, sondern den dornigen Weg des
Erlernens der Sprachen und des Übersetzens der Texte zu gehen. Wenn der
Missionsauftrag, alle Völker zu lehren, ernst genommen werden sollte,
musste man sich von jeder pfingstlichen Hoffnung trennen und die
Sprachen der Völker, denen die Frohe Botschaft gebracht werden sollte,
lernen. Das bedeutete zunächst die Überschreitung der Grenzen der
hebräisch-aramäischen Welt in Richtung auf die hellenistische. Aber
auch das Griechische wurde wenig später überschritten in Richtung auf
das Lateinische und das Gotische (Wulfilas Bibelübersetzung). Das
bedeutete auch eine Entscheidung zugunsten einer bestimmten
Übersetzungspraxis: der Sinn stand im Vordergrund gegenüber der
literalen, wortwörtlichen Übersetzung. Beide Entscheidungen waren
keineswegs unumstritten: das Fortschreiten zu immer neuen Sprachen und
die Freiheit der sinnorientierten Übersetzung waren immer wieder
Gegenstand erbitterter theologischer Auseinandersetzungen.
Die Verschriftung und die Verschriftlichung der
mittelalterlichen europäischen Sprachen ist entscheidend von katechetischen
Finalitäten geprägt. Ein Blick in das neue Inventaire
systématique des premiers documents des langues romanes
zeigt, dass neben dem juristischen Kontext der katechetische
(Übersetzungen, Gebete, Lieder) die Dynamik der Verschriftung und
Verschriftlichung getragen hat. Und gleiches gilt für die germanischen
und slawischen Sprachen.
Die
Reformation hat diese Bewegung aufgenommen und verstärkt. Entscheidend sind
hierbei drei Gesichtspunkte, die den Prozess der Entwicklung moderner Sprachen
in katechetischer Perspektive befördern: Das ist einmal das "sola
scriptura"-Prinzip, das die Dignität mündlicher
Überlieferung in Abrede stellt. Religiöse Überlieferung ist durch
Schrift garantiert - die Katechese hat in den schriftverfassten Texten ihren
einzigen Orientierungspunkt. Das Schriftprinzip wird formuliert zu einem
Zeitpunkt des beschleunigten technologischen Wandels: die Reformation geht eine
enge Beziehung mit dem neuen Medium des Buchdrucks ein. Zweitens geht es um die
Entscheidung für die Zugänglichkeit der Bibel für Laien. Die
Bibel musste insgesamt (nicht nur in Teilen wie bisher) für das
Laienpublikum in volkssprachlichen Übersetzungen zugänglich gemacht
werden. Diese einsetzende Übersetzungsarbeit setzt die Auswahl von
möglichst weit verbreiteten Gemeinsprachen voraus (um die Zahl der
Übersetzungen überschaubar zu halten und den Buchdruck nutzen zu
können). Dies hängt nun eng zusammen mit dem dritten entscheidenen
Schritt: der Bindung der Konfession an die weltliche Herrschaft (cuius
regio, eius religio
) und die damit verbundene Sprache (man könnte fortfahren: eius
lingua). Die Sprachen der Reformatoren waren potentielle
"National"sprachen, die entweder bereits in ihrer Herausbildung weit
fortgeschritten waren (wie das Französische Calvins oder das Englische
des Common Prayer Book) oder für die die Reformatoren durch ihre Texte
die Voraussetzungen schufen (Hus, Luther).
Die Gegenreformation konnte sich dem Druck der sprachlichen
Modernisierung nicht entziehen. Zwar verweigerte das Tridentinum die
Laienbibel, andererseits beförderte es aber nachdrücklich die
Erstellung katechetischer Texte (Doctrina Christiana) in den
Volkssprachen. Diese katechetische Bewegung erreichte die europäischen
Kleinsprachen (z.B. das Bretonische, das Rätoromanische), vor allem
aber fiel diese sprachlich-religiöse Neuorientierung der katholischen
Kirche zusammen mit dem gigantischen Projekt der Missionierung der
Neuen Welt, die die Eroberung legitimieren sollte. Auch hier standen
die Missionare, wie in der Alten Welt, jedoch unter völlig ungeklärten
Bedingungen, vor der Aufgabe, Gemeinsprachen auszumachen, die sich für
die Katechese eigneten. Zwar war die sprachliche Praxis flexibler als
im protestantischen Europa, auch verweigerten sich die Orden als Träger
der Mission der völligen Identifikation mit der politischen Macht, doch
auch hier vollzog sich die Bewegung der Verschriftung und
Verschriftlichung (in Form von katechetischen Texten), gepaart mit der
umfassenden Grammatisierung der amerindischen Sprachen, während in
Europa Verschriftung und Grammatisierung weitgehend getrennte Prozesse
waren, wobei die grammatische Beschreibung der Volkssprachen in anderen
Kontexten als dem religiösen situiert war, gingen diese beiden
sprachtechnologischen Revolutionen in der Neuen Welt Hand in Hand.
Die Verschriftung und Beschreibung der indoamerikanischen Sprachen
in katechetischer Absicht setzt sich bis heute fort. Bibelübersetzungen
und strukturalistische Sprachbeschreibungen werden vom Summer Institute
of Linguistics durchgeführt, trotz der Proteste der
lateinamerikanischen Bevölkerung, die sich einerseits gegen die
Verknüpfung von Religion und weltlicher Macht richten, andererseits
aber auch gegen die Modernisierung der Sprachen, wie sie während
Jahrhunderten durch die katechetische Praxis stattgefunden hat.
Verdeutlichen wir uns noch einmal die Aspekte dieser "Modernisierung":
Drei historische Momente des hier skizzierten Gesamtprozesses
werden in dem vorliegenden Heft fokussiert: der Beitrag von Konrad
Ehlich beschäftigt sich mit der von der Reformation entscheidend
geprägten Diskurstradition der Katechismen. Die Beiträge von Brigitte
Schlieben-Lange, Wulf Oesterreicher/ Roland Schmidt-Riese und Christian
Dümmler beschäftigen sich mit der spanisch-portugiesischen
Missionarslinguistik: Brigitte Schlieben-Lange referiert den aktuellen
Forschungsstand und formuliert Fragen nach dem Konzept der lenguas
generales und nach den grammatikographischen Vorbildern; Wulf
Oesterreicher und Roland Schmidt-Riese berichten über ein aktuelles
Forschungsprojekt, das die Missionarslinguistik im größeren
Zusammenhang des europäischen Humanismus' situiert. Christiane Dümmler
beleuchtet die Übersetzungspraktiken der Missionare in Kolumbien (Nueva
Granada). Mit dem Beitrag von Eni Orlandi sind wir bei der aktuellen
Praxis und Politik des Summer Institute of Linguistics angelangt:
aufgrund einer diskursanalytischen Untersuchung der Aktivitäten des SIL
kommt sie zu grundlegenden Forderungen an eine verantwortungsvolle
Sprachenpolitik.
Der Nexus von Katechese/Mission, Schrift und Sprache scheint,
entgegen allen Vermutungen, am Ende des 20. Jahrhunderts sogar enger zu
werden. Es ist also keineswegs müßig, sich die Aspekte und
Implikationen dieser Verbindung deutlich zu machen.
Summaries
Konrad Ehlich
Catechism - a text species at the interface between the oral and the written
There are not so many occasions providing insight into the emergence and
consolidation of a text species with all its societal and linguistic contexts.
One of these relatively few instances is at stake in the present article,
Luther's "Kleiner Katechismus" (Small Catechism).
After a short review of traditional, personalizing 19th century views
on the Reformation (§ 2.), the treatment of the text species
"catechism" in theological and historical literature on the Reformation
is evaluated (§ 3.1.). Recent research on late medieval text species
enables us to reconstruct the sociography of a basic transformation of
communicative needs which the population, esp. lay people, experienced
in the pre-Reformation and Reformation period (§ 3.2.). The Reformation
is a fundamental revolution with regard to religious theory and
practice, with regard to the religious knowledge system and to the
personnel involved. This transformation, however, encountered serious
problems concerning the accessibility of written language for large
parts of the population (§ 3.3.). The text species "catechism" is
interpreted as a bundle of solutions for this constellation of problems
(§ 4.). Reformation means a principle-based redistribution of religious
knowledge (§ 4.1., 4.2.). The medieval knowledge system is rearranged,
with relatively few basic concepts right in its centre, such as
Scripture as immediate primary source of religious knowledge, and the
possibility of, and need for, immediate contact with the Divine
("knowledge centralization" § 4.3.). In order to disseminate the new
religion among the population as a whole, new media had to be developed
(§ 4.4.). The text species "catechism" is one of the main answers to
this task. It provides a combination or oral and literary features to
an extent which enables the "conciliation" of principalized literarity
with the possibilities and scope of memory-based orality (§ 5.).
Brigite Schlieben-Lange
Missionary Linguistics in Latin America
After
a long period of oblivion, scholars have begun to pay more attention to
the descriptions of Amerindian languages made by the Franciscan,
Dominican and above all Jesuit missionaries. Even though a considerable
amount of synoptic work have been published these last years, much
remains to do. The author stresses two open questions: What does the
concept of lenguas generales exactly mean? How has it been introduced
into political and ecclesiastical discourse and into missionary
practice? As to the grammaticographical know-how, were the missionary
grammarians restricted to Nebrija's Institutiones latinae as their only
model or did they dispose of a much wider grammatical knowledge?
Wulf Oesterreicher und Roland Schmidt-Riese
Amerikanische Sprachenvielfalt und
europäische Grammatiktradition.
Missionarslinguistik im Epochenumbruch der Frühen Neuzeit
The problem of translations in linguistic texts of missionaries in colonial Colombia
The
bulls of pope Alexander VI forced the Spanish crown to convert all
inhabitants of the New World to Christianity. For practical reasons
catholic missionaries learnt and used the American Indian languages for
this purpose. They wrote grammars and religious texts, like catechisms
in these languages. A serious problem was the adequate translation of
Christian terms. The use of indigenous words could also convey
indigenous religious concepts and gods instead of Christian values.
Several examples from texts show, how differently this problem was
solved by the catholic missionaries in colonial Colombia.
Language, Faith, Power: Ethics and Language Policy