
Lili - Heft 117
Thema: Taktilität
Herausgeber dieses Heftes:Ralf Schnell
Inhalt
Ralf Schnell
Einleitung - Introduction
Matthias Bickenbach
Knopfdruck und Auswahl. Zur taktilen Bildung technischer Medien
Button and Decision. For a Tactile ‚Bildung' Towards Media Technology
Nicolas Pethes
Die Ferne der Berührung. Taktilität und mediale Repräsention nach 1900:
David Katz, Walter Benjamin
Distant Touch. Tactility and the Representation by the Media: David Katz and Walter Benjamin
Gregor Schwering
Taktilität. Text und Bild im Spannungsfeld leibhaftiger Praxis
Tactility. Text and Picture in the Hot Spot of Real Practice
Natalie Binczek
Der ärztliche Blick zwischen Wahrnehmung und Lektüre. Taktilität bei Gottfried
Benn und Rainald Goetz
The Medicinal Gaze Between Perception and Reading. Tactility in Some Texts of Gottfried Benn and Rainald Goetz
Stefan Hesper
Die Befremdung zu sein. Scham, Gewalt und Taktilität bei G.A. Goldschmidt
Labor
Silke Philipowski
‚Nein unde ja sint beidiu da'. ‚Parallelpräsenz' versus ‚Gleichzeitigkeit' in der Epik um 1200
Ulrike Vedder
Todesarten und ihre Darstellbarkeit. Ricarda Huch und der Dreißigjährige Krieg
Jørn Erslev Andersen
Die Verwitterung des Grundes
Yvonne Spielmann
Selbstreflexion im Videobild
Ralf Schnell
Einleitung
Blicke können töten - wer wüßte das nicht. Bewußt oder unbewußt, offen
oder versteckt - sie treffen immer ins Ziel: in dieses oder jenes Auge,
in den eigenen oder einen fremden Leib. Solche Blicke sind Medien einer
symbolischen Hinrichtung des Anderen. Sie gleichen immateriellen
Geschossen von taktiler Qualität. Wir begegnen ihnen, wenn wir
aufmerksam sind, überall: im Alltag wie im Kinofilm, in Talkshows wie
in Bundestagsdebatten, unter Liebenden wie unter Freunden. Wir selber
senden sie, jeder von uns, immer aufs neue aus, meist ohne uns dies
einzugestehen. Es handelt sich um eine probate individuelle
Kompensation sozialer Konventionen und Sanktionen. Blicke, die töten
können, sind elegant, diskret und juristisch folgenlos. Sie treffen,
sie verletzen, und sie vernichten. Aber sie hinterlassen keine
nachweisbaren Spuren. Ein Mord, den jeder begeht, mit garantierter
Straffreiheit.
Will man der umgangssprachlichen Wendung "Blicke können töten"
nicht eine bloß metaphorische Qualität zuschreiben, dann eröffnet sich
durch sie ein weites thematisches Spektrum. Es läßt sich mit dem
Begriff ‚Taktilität' umschreiben, ein Gegenstand, der seiner
systematischen und historischen Aufarbeitung noch harrt. Denn sieht man
einmal von der Entwicklungspsychologie und der Pädagogik ab, so finden
sich zu diesem Stichwort im Bereich der Kulturwissenschaften nur wenige
einschlägige Arbeiten. Das ist auch deswegen überraschend, weil die
Theoriediskussion der vergangenen Jahre wesentlich durch
Problemstellungen einer "Materialität der Kommunikation" geprägt worden
sind und weil Theoretiker wie Gilles Deleuze, Maurice Merleau-Ponty,
Marshall McLuhan oder Richard Serres den Aspekt des Taktilen wie den
des Haptischen im Zusammenhang von Wahrnehmungsvorgängen
verschiedentlich problematisiert haben.
Zudem sind Fragen der Taktilität von Medien und ihre Bedeutung für
die Konstitution von Wahrnehmungsformen der Moderne schon vor mehr als
einem halben Jahrhundert in einem kanonischen Text der neueren
Medientheorie hervogehoben worden. "Aus einem lockenden Augenschein
oder einem überredenden Klanggebäude", so Walter Benjamin in seinem
Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit, "wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem
Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktile Qualität.
Damit hat es die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen ablenkendes
Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem
Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf
den Beschauer eindringen." Taktilität erscheint hier als ein
Basiskriterium zur Bestimmung der ästhetischen Moderne. Es verbindet
sich für Benjamin notwendig mit dem Aspekt des Schocks, den der rasche
Wechsel der Bilder im Zuschauer bewirkt. Der verweilende Blick, der dem
Zuschauer auratischer Kunst noch eine gleichsam ausgeruhte, vertiefende
und analytische Wahrnehmung erlaubte, wird unterbrochen, zerschlagen
und zerstört. Der Wechsel der Bilder, ihre Ablösung durch optische
Reize, die rasch durch neue Bilder verdrängt werden, gewinnt über das
Vermögen des Sehens eine materielle Gewalt, die ihrerseits neue
Techniken der Wahrnehmung generiert.
Doch es ist nicht allein die Kunst des Films, die sich solche
Effekte zunutze macht und aus ihnen ästhetisches Kapital schlägt. Was
dem Auge des Zuschauers durch die taktilen Qualitäten des filmischen
Bildes, der Technik des Schnitts und der Ästhetik der Montage
zugemutet, ja: angetan wird, besitzt Vorläufer und Konsequenzen, die
über den Bereich und die Geschichte des Films hinausweisen, in seine
Vorgeschichte wie in unsere Gegenwart. Der Begriff der
Sinneswahrnehmung schließt den synästhetischen Aspekt des gesamten
Wahrnehmungskomplexes ein, den Helmuth Plessner in seiner
Philosophischen Anthropologie als "Totalmannigfaltigkeit der Sinne"
apostrophiert hat. Mit gutem Grund steht das Wahrnehmungsorgan Auge im
Vordergrund solcher Überlegungen. Es ist das Sehen, das dem Menschen
Orientierung gestattet, natürlich im Zusammenspiel mit den übrigen
Sinnen, zumal dem Gehör, doch privilegiert vor allen anderen. Diese
"Prävalenz des Optischen", seine "Suprematie über alle sonstigen Nah-
und Fernsinne" (Plessner) hat durch die Vorgeschichte
kinematographischer Wahrnehmung eine spezifische Ausprägung erfahren,
die der Geschichte der modernen Naturwissenschaften seit Galilei
parallel läuft und durch diese geprägt wird.
Diese Entwicklung und Wandlung der Wahrnehmungsstruktur hat auch
auf das Verhältnis von Text und Bild eingewirkt. Der Text, der dem
Augen-Blick des Lesers ausgesetzt ist, steht zu diesem in einem
taktilen Verhältnis, dessen handgreiflichste Ausprägung die
Blindenschrift ist. Der Blick wird nicht nur vom Text berührt, sondern
berührt auch seinerseits den Text, indem er sich mittels Lektüre ein
Bild macht, das heißt: Buchstaben in einen Textkörper überführt. Der
Tastsinn, der auf diese Weise ins Spiel kommt, besitzt seinerseits eine
lange philosophische Tradition bei den Sensualisten, die nachdrücklich
auf seine wahrnehmungsrelevante Funktion hingewiesen haben, ideelles
Gegenbild einer ‚erleuchteten' Aufklärung, die den Fernsinn Sehen
unmittelbar und ausschließlich mit der Verstandestätigkeit verknüpft
wissen wollte. Beide philosophischen Modelle müssen nicht notwendig als
Gegensätze verstanden werden, sondern lassen sich als komplementäre
Faktoren einer Wahrnehmungsgeschichte begreifen, die jeweils
parzellierte Elemente eines kommplexen Wahrnehmungsprozesses
akzentuieren. Seinen Facetten gehen die Autoren dieses Heftes anhand
ausgewählter thematischer Aspekte nach.
Der Beitrag von Matthias Bickenbach untersucht zunächst die
aktuellen Entwicklungen der taktilen "Bildung" technischer Medien.
Knopfdruck und Auswahl repräsentieren Basisfunktionen, welche die
Apparatur des Rechners und der digitalen Werkzeuge bereithält. Der
"Knopf", Medium des Ein- und Ausschaltens eines neuen technologischen
Universums, eröffnet den Zugang zu einer unausschöpflichen Vielfalt von
Schaltungen und Verknüpfungen. Er ist ein elementares Handwerkszeug,
angst- und erwartungsbesetzt zugleich, das die Handhabung eines
Universalinstruments ermöglicht. "Ein" oder "Aus" - diese Befehle
stellen in ihrer Simplizität zugleich ein theoretisches Modell der
binären Basisstruktur des Rechners dar, die taktile Repräsentanz von
Null und Eins, die sich als Unendlichkeit wie als Unterbrechung
verstehen läßt, diskret und arbiträr, gewaltförmig und entlastend.
Verzweigungen dieser binären Basis lassen sich bis in die Virtuosität
des Knopfdrucks beim Computerspiel nachweisen, die der gewaltförmigen
Taktilität des Blicks von Kids, Freaks und Spielerclans auf ihre Weise
Ausdruck geben.
Eine historische Dimensionierung erfährt dieser Aspekt in dem
Beitrag von Nicolas Pethes. Anhand eines Vergleichs von David Katz'
Studie Der Aufbau der Tastwelt aus dem Jahre 1925 und Walter Benjamins
bereits erwähntem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit untersucht Pethes die Korrespondenzen zwischen zwei
Wahrnehmungstheorien, die Probleme der Ästhetik und der Psychotechnik
aufeinander bezogen und füreinander fruchtbar gemacht haben. Zum einen
läßt sich im Zusammenhang der Entwicklung industrieller
Produktionsweisen festellen, daß ‚Taktilität' nach 1900 kein Garant
mehr für eine körperbezogene Kommunikation ist. Zum anderen zeigen die
Interferenzen zwischen den neu sich entwickelnden Medientechniken, daß
die auf Taktilität sich beziehende Verlusterfahrung mit der
schockierenden Dimension einer neuen, technikgenerierten Form von
Taktilität einhergeht.
Ins Literarische hinein erweitern die Beiträge von Gregor
Schwering, Natalie Binczek und Stefan Hesper unser Schwerpunktthema.
Gregor Schwering setzt sich mit dem Thema "Text und Bild" auseinander.
E.T.A. Hoffmanns Erzählung Ritter Gluck und Hans Holbeins Gemälde "Die
Gesandten" treten in diesem Beitrag in eine Konstellation, die dem
Blick eine beunruhigend-leibhaftige, buchstäblich anrührende Qualität
zuweist. Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie und Jaques Lacans
Psychoanalyse liefern die Instrumente zu einer Untersuchung dieses
Wahrnehmungskomplexes, die einen spannungsreichen Vergleich
unterschiedlicher künstlerischer Techniken und Absichten ermöglicht.
Ein Vergleich liegt auch dem Aufsatz von Natalie Binczek
zugrunde, der den unterschiedlichen Wahrnehmungsformen von
Schriftstellern nachgeht, die zugleich Ärzte sind oder waren: Gottfried
Benn und Rainald Goetz. Bereits im späten 18. Jahrhundert, so Natalie
Binczek, war der Blick des Arztes zugleich taktil und hermeneutisch. In
seiner Entwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts offenbart sich ein
sich wandelndes Wahrnehmungskonzept, welches den menschlichen Körper
als eine sich ausdifferenzierende, gegenüber seiner Umwelt sich
abschließende Organisationsform versteht. Die Autorin liest Texte von
Gottfried Benn und Rainald Goetz vor diesem Hintergrund als
literarische Exempel eines ärztlichen Blicks, der den menschlichen
Körper gleichsam hermeneutisch erfaßt und poetisch transformiert.
Das Verhältnis von Scham, Gewalt und Taktilität untersucht
schließlich Stefan Hesper in seinem Beitrag über Georges Arthur
Goldschmidt. Hesper zeigt in Form einer textnahen Lektüre, wie sehr die
politischen Erfahrungen des Ich-Erzählers Goldschmidt vermittelt sind
durch die körperliche Erfahrung des Faschismus: durch den Blick auf das
Leben und Leiden anderer Menschen, durch die Verletzlichkeit
nahestehender wie fremder Personen, durch Ekel und Scham angesichts des
eigenen Selbst. Das aus dieser Erfahrung erwachsende Gefühl eines
jüdischen Kindes angesichts des eigenen Körpers wird zur Erfahrung
eines lebenslang prägenden Makels, der eine taktile, nämlich
gewaltförmige Qualität besitzt.
Gemeinsam ist den in diesem Heft zum Thema 'Taktilität'
versammelten Beiträgen, daß sie ihren Gegenstand nicht definitorisch
festschreiben. Sie versuchen vielmehr, ihn anhand unterschiedlicher
Aspekte zu umkreisen, zu vertiefen und zu gewichten, ohne ihn
einzugrenzen. Auf diese Weise entsteht ein facettenreiches Ensemble von
Taktilitätsbezügen - Ausdruck des Versuchs einer transdisziplinären
Arbeit, die für verschiedene literatur-, kultur- und
medienwissenschaftliche Lektüren offen bleiben will.
Summaries
Matthias Bickenbach
Knopfdruck und Auswahl. Zur taktilen Bildung technischer Medien
Button and Decision. For a tactile ‚Bildung towards media technology
The article deals with a change of observation on media technology.
Posing the question, if we can touch the medium itself, the operations of
pushing buttons and its work of decision making are showing a wide social impact
and a resistance to media theory. The tactile dimension of media are discussed in
the concepts of McLuhan, de Kerkhove, Kittler and Winkler as well as in their
public images. While in public discourse the button stands for the anxiety, to
find no off switch, the reverse angle is found in the science fictions of his
elimination. The button as a theoretical modell of parergon and interruption of
interruption seems to intercept the medium and forces the observation of a tactile
‚Bildung, wich stands, like the button itself and even like tactility, in the
background at the marges of discourse.
Nicolas Pethes
Die Ferne der Berührung. Taktilität und mediale Repräsention nach 1900:
David Katz, Walter Benjamin
Distant Touch. Tactility and the Representation by the Media: David Katz and Walter Benjamin
In contrast to many studies arguing that tactility has been a sense low-estimated
within western tradition, the essay introduces a dispositive of the tactile around
1900, constituted by the material focus of aesthetics as well as by the industrial
school of psychotechnics. The comparative lecture of two corresponding theories,
avid Katz' Der Aufbau der Tastwelt (1925) and Walter Benjamins Das Kunstwerk im Z
eitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), shows the close relationship
between tactility and both its representation and evocation by the media.
The question is, by which means this modern form of medial tactility causes are
emoval of the object of touch: Tactility after 1900 no longer guarantees the
closeness or authenticity of a body-to-body commmunication, but rather demonstrates
the interference of media techniques and thus the alienation of the subject within
the dispositiv of industrial production due to its shocking closeness.
Gregor Schwerin
Taktilität. Text und Bild im Spannungsfeld leibhaftiger Praxis
Tactility. Text and Picture in the Hot Spot of Real Practice
If it is true that looks can feel or even kill, as popular expressions claim,
then the issue of this touch is not only a metaphoric one. Yet this would imply
the disturbingly real and touching quality of the look rather than being harmless
and simply the expression of an organ of sight. This is however what needs to be
reflected when the problem of tactility as a moment of unsure visual or cutaneous
stimulus is at stake.
Natalie Binczek
Der ärztliche Blick zwischen Wahrnehmung und Lektüre. Taktilität bei Gottfried
Benn und Rainald Goetz
The Medicinal Gaze Between Perception and Reading. Tactility in some texts
of Gottfried Benn and Rainald Goetz
In the late eighteenth century the medicinal gaze becomes taktile and 'hermeneutic'
at the same time. It corresponds the redefinition from the old European humoral
physiology into the modern organically and neuronally based body concept. From
this time on the human body is seen as an autonomous organisation, which closes
itself functionally against the environment and therefore turnes the medicinal
diagnosis into a problem of (hermeneutic) understanding. Within this theoretical
frame the following reading of some of Benn's and Goetz's texts, concerning the
tactility of the medicinal gaze, takes place. But these literary do not just
document the historical facts. Instead they radicalize the problem of (hermeuntic)
reading.
Stefan Hesper
Die Befremdung zu sein. Scham, Gewalt und Taktilität bei G.A. Goldschmidt
Leider kein Summary vorhanden